Musik im vorrevolutionären Europa

Musik im vorrevolutionären Europa
Musik im vorrevolutionären Europa
 
Der Wandel der Gesellschaft im 18. Jahrhundert spiegelt sich auch in der Musik und im Musikleben wider. Dies gilt prinzipiell für alle Epochen, weil musikalisches Tun an Menschen gebunden ist, die als Schaffende, Ausführende oder Hörende daran teilnehmen. Es gilt in einem spezifischen Sinne für diese Zeit und ihre Kultur, die zunehmend vom Phänomen der Öffentlichkeit bestimmt wird. Auch musikalische Aufführungen erhalten immer ausdrücklicher den Charakter öffentlicher Darbietungen. Sie repräsentieren gesellschaftliches Leben oder werden von ihm beeinflusst. Das schließt eine eigene Position der Musik innerhalb der zeitgenössischen Ästhetik nicht aus. Insbesondere im Kontext des Begriffsfeldes »Aufklärung« kann die Musik nicht einfach den übrigen politischen, ökonomischen und geistig kulturellen Erscheinungen gleichgesetzt werden. In gewisser Hinsicht kommt ihr sogar eine Sonderrolle zu, die vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stärker sichtbar wird. Abgesehen davon, dass »Aufklärung« ein Sammelbegriff ist, der unterschiedliche Phasen und Denkrichtungen der Epoche anhand bestimmender Merkmale zu verbinden sucht, zeigt sich im Hinblick auf die Musik, dass sie vielfach nicht nach den Prinzipien der Vernunft, sondern nach denen des Gefühls beurteilt wird. Ist aber die Musik ein gefühlsbestimmtes Phänomen oder, wie man damals sagte, eine »Sprache der Empfindung«, fungiert sie nicht oder nicht in erster Linie als Teilbereich rationaler Lebensgestaltung, sondern wird eher als deren Ausnahme und Ergänzung angesehen und als ein spezifisches Feld menschlicher Anlagen und Ausdrucksformen neben das vorherrschend Vernunftgemäße gestellt.
 
Dabei darf der Stellenwert, den man der Musik einräumte, nicht überschätzt werden. Der Bereich der »Empfindsamkeit«, den das zeitgenössische Schrifttum ihr zuspricht, bildet keine absolute Gegenposition gegen das Rationale. Erst die spätere radikale Innenwendung romantischer Kunstbetrachtung und deren transzendierende Zuordnung der Musik zu einer »Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt«, exemplarisch in E.T.A. Hoffmanns Rezension der fünften Sinfonie Beethovens von 1810, stellt ihre Funktion, Gesellschaftliches zu repräsentieren, infrage. Im 18. Jahrhundert hingegen bleibt die Musik, trotz ihrer Sonderstellung als »Empfindungssprache«, in ein vernunftorientiertes Weltbild integriert. Insofern konnte sie sich fraglos als Element eines öffentlichen Lebens darstellen, das im Laufe des Jahrhunderts immer stärker vom Bürgertum getragen wurde.
 
Diese musikalische Öffentlichkeit manifestierte sich in prunkvoll großartigen oder auch intim bescheideneren Veranstaltungen, in Oper, Konzert und (halb öffentlicher) Hausmusik sowie in deren Beschreibung, Klassifizierung und Beurteilung in Büchern und Zeitschriften. Die Aristokratie hatte hieran weiterhin wesentlichen Anteil. In Konzertvereinen und Operngesellschaften wirkten Adlige und Bürger zusammen, in Orchestern und Kammermusikgruppen saßen sie nicht selten (musikalisch) gleichrangig nebeneinander, und zu den Opernhäusern hatten Angehörige aller Schichten Zutritt, sofern sie den Eintritt bezahlen konnten.
 
Das öffentliche Musikleben bot allerdings in den einzelnen europäischen Ländern, je nach den örtlichen Möglichkeiten und Bedingungen, Traditionen und Neuerungen, Publikumsinteressen und Künstlerindividualitäten ein sehr verschiedenartiges Bild. Zwar kann man die musikalische Epoche von den 20er-Jahren des 18. Jahrhunderts bis zur beginnenden Wiener Klassik um 1770 kompositorisch und ästhetisch als einen Prozess relativ kontinuierlicher Veränderungen sehen. Denn die neuen Formen und Gattungen, Satzstrukturen und Ausdrucksmöglichkeiten entwachsen einer im Wesentlichen noch gemeinsamen europäischen Musiksprache. Die ihr zugeordnete vorrevolutionäre Musikkultur Europas jedoch lässt sich aufgrund der sozialen und regionalen Vielfalt weit weniger als Einheit fassen und nur im Blick auf einige ihrer bestimmenden Faktoren übersichtsweise beschreiben.
 
Nach wie vor kommt der Oper eine fast unbestrittene führende Position zu. Als prachtvolle, repräsentative Darbietung besaß sie, wie im Barock, nicht nur einen hohen gesellschaftlichen Rang, sondern beherrschte als Gattung auch die ästhetischen Diskussionen. Vor allem in Deutschland wurde die Opernkultur hauptsächlich von Fürstenhäusern getragen. In Italien dagegen war sie eine Angelegenheit aller Musikinteressierter. Der Glanz und die Ausstrahlung italienischer Opernaufführungen können kaum überschätzt werden. Dementsprechend nahmen italienische Musiker im Ausland vielfach eine höhere, freiere und auch materiell abgesichertere Stellung ein als ihre einheimischen Kollegen.
 
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts traten neben die italienische Hofoper internationalen Gepräges, die heldisch dramatische »Opera seria« der großen Sängerinnen und Sänger, neue nationalsprachliche Ausprägungen eines volkstümlichen Theaters mit Musik. Aus den szenischen Zwischenspielen der Opera seria, den Intermezzi, entstand in Italien die heitere, lebendige »Opera buffa«. Giovanni Battista Pergolesis »La serva padrona« (»Die Magd als Herrin«) ist ein frühes geniales Beispiel dieser schlagkräftigen und bühnenwirksamen musikalischen Komödie. Sie wurde 1733 als Intermezzo für Neapel komponiert und begründete, von dort ausgehend, die europäische Geltung der neuen Gattung. Seit 1746 wurde Pergolesis Werk mehrmals auch in Paris aufgeführt und löste dort 1752 zwischen Anhängern der tradionellen französischen Tragédie lyrique und der italienischen Opera buffa den »Buffonistenstreit« aus, der für die Operngeschichte und die musikalische Ästhetik der Zeit von größter Bedeutung war. Hierbei ging es um die Rolle von Musik und Sprache und um Möglichkeiten einer neuen, »natürlichen«, realistischen Kunst.
 
Angeregt durch die Opera buffa entwickelte sich in Frankreich aus Elementen des volkstümlichen französischen Typus des Schauspiels mit Musik und des populären »Théâtre de la foire« (Jahrmarktstheater) die »Opéra comique« mit gesprochenen Dialogen und kurzen, knappen Musikstücken. Beinflusst von der Opéra comique und englischen volkstümlichen Opernformen (Ballad farce, Operetta) mischte auch das Deutsche Singspiel in ähnlicher Weise einfache Gesangsnummern mit gesprochenem Text.
 
Neben der Opernkultur, deren Anfänge bis zum Frühbarock zurückreichen, bildete das (vorwiegend) bürgerliche Konzertwesen ein neues, wichtiges Element öffentlicher Musikausübung im 18. Jahrhundert. Dem sozialen Gefüge und Selbstverständnis des Publikums entsprechend vollzog sich diese Entwicklung in den einzelnen europäischen Ländern in recht unterschiedlichen Zeitphasen. Am frühesten wurden in London und Paris regelmäßige öffentliche Konzertveranstaltungen durchgeführt. In London gab es schon seit dem späten 17. Jahrhundert Konzertgärten, in denen man wie in Vergnügungsparks essen, trinken und ein bunt gemischtes Musikangebot genießen konnte. Auf Initiative von Musikern wie Francesco Saverio Geminiani, Johann. Christian Bach und Carl Friedrich Abel fanden seit 1729 regelmäßige Konzertreihen auf Subskriptionsbasis statt. In Paris gründete Anne Danican-Philidor 1725 die »Concerts spirituels«, ein Konzertunternehmen mit Chor und Orchester, das durch gezielte Werkauswahl und hohes Niveau der ausübenden Künstler jahrzehntelang das französische Musikleben maßgeblich bestimmte.
 
In Deutschland lässt sich Vergleichbares erst später beobachten. Die Kaufmannschaft in Leipzig zum Beispiel betrieb seit 1743 ein Konzertunternehmen, das bald aus Privatwohnungen in den Saal eines Gasthofs verlegt wurde und das um 1750 mit 200 bis 300 Zuhörern pro Konzert rechnen konnte. Zusammen mit der Einweihung eines neuen Konzertsaales mit 500 Plätzen führte dies 1781 zur Gründung der »Gewandhauskonzerte«, einer Veranstaltungsreihe mit jährlich 24 Abonnements- und weiteren Virtuosenkonzerten sowie einer Oratorienaufführung zum Besten der Armen. In vielen deutschen Städten war das Collegium musicum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts Ausgangspunkt solch eines Prozesses allmählicher Umwandlung vom Musizieren im kleinsten Kreis zum Konzertieren vor geladenen Gästen und schließlich vor zahlendem Publikum. Georg Philipp Telemann hatte schon Anfang des Jahrhunderts in Leipzig und in Frankfurt am Main mit den dortigen Collegia musica öffentliche Konzerte gegeben. Johann Sebastian Bach übernahm 1729 das Leipziger Collegium musicum, in welchem hauptsächlich studentische Musiker mitwirkten, und brachte weltliche Kantaten als Huldigung für Fürsten und hochstehende Bürger sowie ein reiches Spektrum instrumentaler Werke zur Aufführung.
 
Parallel hierzu wandelten sich allmählich die sozialen Bedingungen und die künstlerischen Aufgaben der Musiker. Der Berufsmusiker fand weiterhin vor allem in fürstlichen Diensten eine gesicherte und geachtete Position, während die übrigen traditionellen Träger der Musikkultur, Kirche, Schule und Stadt, zwar noch bestanden, an Einfluss und Ansehen aber deutlich abnahmen. Die handwerklich organisierten Musikerzünfte verloren mehr und mehr an Bedeutung gegenüber aufstrebenden Laien- und Liebhaberinstumentalisten, von denen sich einige - nicht selten durch Berufsmusiker verstärkt - zu Kammermusik- und Orchestervereinigungen zusammen schlossen.
 
Dennoch bleibt die Musik bis spät ins 18. Jahrhundert hinein wesentlich auf ihren jeweiligen Auftrag bezogen. Ausdrucksgehalt und Struktur einer Komposition spiegeln im Allgemeinen den Anlass und das Umfeld, für die sie geschaffen wurde. Und erst ansatzweise entwickelte sich daraus - mit der Gründung von Musikverlagen und der vermehrten Verbreitung von gedruckten Werken - so etwas wie ein Markt, aus dem man auswählt und ursprünglich funktionsgebundene Kompositionen in neuem Zusammenhang zur Aufführung bringt. Dementsprechend war der Komponist durchgehend auch ausübender Musiker, Leiter von Ensembles, hochrangiger Instrumentalist, Organisator musikalischer Festveranstaltungen und Regisseur seiner Opern. Vereinzelt trat daneben der Typus des reisenden Virtuosen auf, der zwar auch komponierte, aber in erster Linie auf seine instrumentalen Fähigkeiten vertraute. Mit festgefügten Konzertorganisationen konnten Virtuosen aber noch keinesfalls rechnen. Und so mussten sie sich stets zunächst durch Empfehlungsschreiben an einem fremden Ort einführen lassen und sich dann durch Hausmusikabende bei Gönnern oder die Mitwirkung bei Liebhabervereinigungen allmählich bekannt machen, ehe sie eigene Konzerte wagen konnten.
 
Ein bestimmender Faktor schließlich für die Musikkultur des fortschreitenden 18. Jahrhunderts war der Musikjournalismus. Einzelne, meist kurzlebige musikalische Zeitschriften bildeten den Anfang. In der zweiten Jahrhunderthälfte nahm ihre Zahl und Verbreitung deutlich zu. Abhandlungen, Berichte, Kritiken und Anzeigen förderten in vielfacher Hinsicht das Wachsen eines öffentlichen bürgerlichen Musiklebens. Die früheste deutsche Musikzeitschrift war die von Johann Mattheson 1722/23 und 1725 in Hamburg herausgegebene »Critica musica«. Es folgten unter anderem Johann Adolph Scheibes »Critischer Musicus« (1737-1740), Lorenz Christoph Mizlers »Neu eröffnete Musikalische Bibliothek« (1736-1754) und Friedrich Wilhelm Marpurgs »Kritische Briefe über die Tonkunst« (1759-1764). Die Namen vermitteln bereits eine Vorstellung von den dahinter stehenden Absichten, die auf eine weithin sich entfaltende musikalische Kennerschaft zielen und zugleich ein neues, gewissermaßen demokratisches Kunstbewusstsein spiegeln und anregen wollen.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Bimberg, Guido: Musik in der europäischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Weimar u. a. 1997.
 Fink, Monika: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck u. a. 1996.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Michael Raeburn und Alan Kendall. Band 1: Von den Anfängen bis zur Wiener Klassik. München u. a. 1993.
 
Die Musik des 18. Jahrhunderts, herausgegeben von Carl Dahlhaus. Sonderausgabe Laaber 1996.
 Schreiber, Ulrich: Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters.2 Bände. Lizenzausgabe Kassel u. a. 1988—91.

Universal-Lexikon. 2012.

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